Güntherblues

05.03.2022

Kurzer Experimentalfilm über Günther, der schon seit mehreren Jahren in Limburg auf der Straße lebt. Stephan van den Bruck hat Günther viele Jahre lang immer wieder mit der Kamera begleitet, hat versucht, zu helfen und zu verstehen. Es ist geplant, das Material mit einer autobiographischen Erzählung des Filmemachers zu einem Langfilm zu kombinieren.

9:38 Minuten

Zeichnen heißt weglassen, so lautet ein berühmter Satz des Malers Max Liebermann. Lichtmaler und Filmemacher Stephan van den Bruck folgt in seinem kurzen Dokumentarfilm über den obdachlosen Günther Kremer diesem Diktum. Der Zuschauer erfährt nichts über möglicherweise tragische Hintergründe, die wir so gern für das Leben von Obdachlosen verantwortlich machen würden. Nichts darüber, warum es so schwer ist, etwas an diesem Zustand zu ändern.

Mit einer sensiblen Kamera- und Tonführung, die dem Protagonisten sehr nahekommt, mit poetischen Off-Kommentaren aus van den Brucks eigener Erfahrungswelt und einer beiläufig-schönen Musikbegleitung, wie sie passender nicht hätte gewählt sein können, setzt Stephan van den Bruck sich zu seinem Protagonisten in Beziehung und setzt diesem ein Denkmal. Van den Bruck weiß, wie es sich auf der Schattenseite des Lebens anfühlt. Er war selbst dort. „Wenn ich Günther sehe, schaue ich mir selbst in die Seele“, lautet der erste Satz im Film. Ein Satz wie ein Donnerhall.

Vielleicht gelingt es ihm auch deshalb, eine besondere Nähe zu seinem Freund Günther herzustellen, die sich auf den Zuschauer überträgt und ihre Wirkung tut. Denn dieses Mal schauen wir nicht weg, wenn der obdachlose Günther Kremer mit den Beschwernissen seines Alltags fertigzuwerden versucht.

Wir sehen Günther Kremer in der Bahnhofshalle einer Kleinstadt auf einer Bank sitzen, umgeben von seinen Habseligkeiten und mit einem Becher Kaffee in der Hand, sein Blick geht ins Leere – es ist einer dieser typischen Nicht-Orte, ein Transitraum. Für Günther Kremer aber ist er ein Ankerplatz, ein Ort, an dem er zur Ruhe kommen kann, immer vorausgesetzt, dass es „keine besonderen Vorkommnisse“ gibt, er nicht weggejagt wird, weil die Gesellschaft einen wie ihn als Störfaktor empfindet. Als hässlichen Riss in der sauberen Fassade deutscher Bürgerlichkeit.

Günther Kremers Atem geht schwer, fast physisch spüren wir seine Last. Später, auf der Straße, wird das Aufheben einer heruntergefallenen Brotdose zu einer fast unmenschlichen Anstrengung. Auch die 50 Cent für die öffentliche Toilette hat Günther nicht, sein Filmemacher-Freund muss sie ihm geben.

Keine zehn Minuten braucht Stephan van den Bruck, um dem Zuschauer die gängigen Meinungen und Vorurteile über Obdachlose zur Revision vorzulegen und seinem Freund ein Denkmal zu errichten. Nach diesem Film, so hofft der Filmemacher, wird der Zuschauer anders auf Obdachlose schauen. Er wird auf dem Wochenmarkt nicht an einem wie Günther Kremer vorüberziehen, den gerade das Aufheben einer Brotdose so erschöpft hat wie einen Normalbürger ein Marathon. Der Zuschauer wird anders auf einen auf dem blanken Asphalt sitzenden Menschen und dessen Habseligkeiten blicken. Nach Ende der Dreharbeiten hat die Stadt, in der Günther lebt, die Bänke in der Bahnhofshalle entfernen lassen.

Maren Preiß


IMPRESSIONEN


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